Risikobewertung bei Inverkehrbringensanträgen
Bevor ein gentechnisch veränderter Organismus, kurz GVO, und abgeleitete Lebens- und Futtermittel in der EU in Verkehr gebracht werden dürfen, muss der GVO einer umfangreichen Risikobewertung unterzogen werden, die den beantragten Verwendungszweck berücksichtigt. Art und Umfang der für die Risikobewertung vorzulegenden Daten werden durch Leitliniendokumente der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) und gesetzliche Bestimmungen wie die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 503/2013/EG vorgegeben. In diesen finden sich die Datenanforderungen, Untersuchungsmethoden und statistischen Auswertungen, die von den Antragstellenden für eine Genehmigung eingereicht werden müssen. Eine Genehmigung wird von der Europäischen Kommission unter Beteiligung der Mitgliedstaaten nur für Lebens- und Futtermittel erteilt, die nachweislich keine nachteiligen Auswirkungen sowohl auf die Gesundheit von Mensch und Tier als auch die Umwelt haben.
Eine Einführung in das komplexe Thema bietet das folgende Video:
Kurz erklärt: Risikobewertung von gentechnisch veränderten Organismen (GVO)
Die Risikobewertung von GVO wird im Folgenden beispielhaft an gentechnisch veränderten (gv) Pflanzen skizziert, da der überwiegende Teil der Inverkehrbringensanträge diese zum Gegenstand haben.
Eine gv Pflanze, die zu Lebens- und/oder Futtermittelzwecken in Verkehr gebracht werden soll, soll abgesehen von den veränderten Eigenschaften genauso wachsen, sich entwickeln, aussehen, nahrhaft, gesund und sicher sein, wie deren unveränderte Ausgangspflanze. Falls Unterschiede gefunden werden, müssen diese in der Sicherheitsprüfung eingehend bewertet werden. Nur wenn die Pflanze in der Verwendung genauso sicher wie die unveränderte Ausgangspflanze ist, kann sie für den beantragten Verwendungszweck genehmigt und in Verkehr gebracht werden. Die Einzelfall-bezogene Risikobewertung umfasst daher viele verschiedene Bereiche, um mögliche negative Auswirkungen der gentechnischen Veränderung ausschließen zu können. Welche Daten genau von den Antragstellenden vorzulegen sind, hängt davon ab, für welchen Verwendungszweck die Genehmigung beantragt wird.
Zunächst betrachtet man die spezifischen biologischen Eigenschaften der Ausgangspflanze, in die die gentechnische Veränderung eingebracht wurde (in der Regel Mais, Raps, Soja oder Baumwolle sowie gelegentlich Kartoffel und Zuckerrübe). Dabei geht es um Aspekte des Verhaltens in der Umwelt wie Überdauerung (z. B. Kälteresistenz, Keimruhe), Kreuzbarkeit mit Wildverwandten, Ausbreitungsfähigkeit und Etablierungspotential, aber auch um das toxikologische und allergene Potential.
Bei der molekularen Charakterisierung wird die gentechnische Veränderung der gv Pflanze und ihre Funktion ganz genau betrachtet und geprüft, ob unerwünschte Auswirkungen durch den Ursprung, die Stabilität und den Integrationsort des eingebrachten Gens im Genom der Pflanze zu erwarten sind, z. B. durch mögliche Veränderung von Genfunktionen der Ausgangspflanze.
Die beabsichtigten neuen Eigenschaften, die sich aus der gentechnischen Veränderung ergeben, sollen die einzigen sein, in denen sich GVOs von konventionellen Pflanzen unterscheiden.
Das zentrale Prinzip der Risikobewertung von GVO nennt sich vergleichende Risikobewertung. Grundlage ist die Annahme, dass traditionell angebaute Kulturpflanzen eine sogenannte Geschichte der sicheren Verwendung (history-of-safe-use) besitzen, d. h. sie gelten aufgrund der langjährigen Erfahrung in Anbau und Verarbeitung zu Lebens- und Futtermitteln als sicher für Mensch und Tier sowie die Umwelt. Bei der vergleichende Risikobewertung werden u. a. agronomische Merkmale (z. B. Ertrag) sowie Ausprägungen des Erscheinungsbildes, die Zusammensetzung der Inhaltsstoffe und durch Verarbeitungsprozesse bzw. Lagerung entstehende Effekte verglichen.
In der toxikologischen Bewertung wird geprüft, ob die gv Pflanze neue gesundheitsschädliche Stoffe (z. B. Toxine) produziert, oder die Konzentration bestimmter endogener Stoffe über die normale Variabilität hinausgeht. Die Ergebnisse der molekularen und der vergleichenden Analysen werden hinzugezogen. Die neu exprimierten Proteine müssen ausführlich biochemisch charakterisiert und auf eine mögliche toxische Wirkung überprüft werden. Dazu wird das ggf. im GVO neu exprimierte Protein auch grundsätzlich mit Hilfe bioinformatischer Analysen mit bekannten Toxinen verglichen. In begründeten Einzelfällen müssen auch Tierstudien durchgeführt werden, in denen das isolierte Protein in hoher Dosis an Nager verabreicht wird. Eine 90-tägige Fütterungsstudie an Nagetieren mit Material der gv Pflanze ist gemäß Durchführungsverordnung (EU) Nr. 503/2013 obligatorisch durchzuführen, um mögliche schädliche Auswirkungen durch das gesamte gv Lebens-/Futtermittel zu ermitteln oder verbleibende Unklarheiten zu beseitigen.
Die allergologische Bewertung beurteilt das spezifische Risiko einer gv Pflanze, Allergien auslösen zu können. Produziert die gv Pflanze ein neues Protein, betrachtet man das allergene Potential sowohl des neu gebildeten Proteins als auch das der Empfängerpflanze. Dazu wird das neu eingeführte Protein generell mit Hilfe bioinformatischer Analysen mit bekannten allergenen Proteinen verglichen. Ist die Empfängerpflanze als allergen bekannt (z. B. Sojabohnen), muss überprüft werden, ob ihre Allergenität durch die genetische Veränderung beeinflusst wird. In diesem Zusammenhang wird überprüft, ob sich die Gehalte von natürlicherweise in der Empfängerpflanze gebildeten Allergenen erhöht haben.
Die ernährungsphysiologische Bewertung prüft, ob die Lebens- und Futtermittel, die aus einer gv Pflanze hergestellt werden, genauso nahrhaft sind, wie die, die aus der konventionellen Ausgangspflanze produziert werden. Werden bei der vergleichenden Analyse Unterschiede im Gehalt einzelner Inhaltsstoffe festgestellt, muss deren ernährungsphysiologische Relevanz eingehend bewertet werden. Das kann z. B. durch die Analyse von Fütterungsstudien in Nutztieren erfolgen. Der Antragsteller oder die Antragstellerin muss die Notwendigkeit und das Design von tierexperimentellen Ernährungsstudien auf der Grundlage der eingeführten Merkmale, der Ergebnisse der vergleichenden Analyse und der gemäß Durchführungsverordnung (EU) Nr. 503/2013 obligatorisch durchzuführenden 90-Tage-Nagerfütterungsstudie bestimmen. Zusätzliche Informationen über den Nährwert können beispielsweise aus vergleichenden Studien zur Wachstumsleistung gewonnen werden, die mit anderen Tierarten, z. B. Masthühnern, durchgeführt wurden und die sich mit der ernährungsphysiologischen Bewertung von gv Futtermitteln befassen.
Bei der Expositionsanalyse wird die Quelle, Route, Höhe und Häufigkeit bzw. Dauer des Kontakts mit dem GVO bzw. Bestandteilen davon betrachtet. Hierbei muss z. B. die Exposition von Arbeitern, im Falle von Anbau auch der (zufällige) Kontakt von Anwohnern oder Wild- und Nutztieren mit dem GVO, abgeschätzt und hinsichtlich des Risikos bewertet werden. Wird der GVO oder Teile davon als Lebens- und Futtermittel in Verkehr gebracht, werden mit Hilfe repräsentativer Verzehr-/Konsummengen von verschiedenen möglichen aus dem GVO hergestellten Produkten durchschnittliche und maximale Aufnahmemengen ermittelt, welche hinsichtlich ihres Risikos bewertet werden.
Auch eine Umweltrisikobewertung muss durchgeführt werden. Im Zentrum steht die Frage, ob sich der GVO in der Umwelt etablieren oder sich anderweitig negativ auf die Umwelt auswirken kann. Dabei ist die Prüfung bei Anbauanträgen deutlich umfangreicher (siehe UVP) als bei Importanträgen für Lebens- und Futtermittel, bei denen die Auswirkungen von Transportverlusten und Verschüttung adressiert werden müssen.
Die Risikobewertung erfolgt nach dem Beweiskraftkonzept, d. h. sie ist ein Verfahren, bei dem alle verfügbaren Daten basierend auf ihrer Aussagekraft und Qualität bewertet werden.